Schreibwerkstatt online

Sei über einem Jahr haben wir uns nicht mehr getroffen. Wer jetzt glauben würde, unsere Aktivitäten seien eingeschlafen, könnte sich nicht stärker irren. Waren am Anfang unsere Zoomversuche noch etwas wackelig, haben die Treffen inzwischen ordentlich Fahrt aufgenommen. Die letzten Male waren wir jedes Mal fast ein Dutzend, die mitgemacht haben. Und wir haben gut zusammen an unseren Texten gearbeitet. Richtig Spaß hat es gemacht. Und immer gilt: Alles darf. Vorhandenes und Neues.

Manchmal machen wir Schreibübungen: Monolog eines Radiergummis, wer hat Lust, etwas zu schreiben? Gisela Naumann hatte. Und hier ist ihr Text:

Monolog eines Radiergummis

Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich, der Radiergummi des Colonels Comte de Saint-Elzar, einmal im Müll,  im Unrat landen würde.

Ich habe mein Leben im Arbeitszimmer im oder auf dem Schreibtisch meines Colonels verbracht, zusammen mit seinem goldenen Füllfederhalter, dem Siegellack und dem Petschaft und natürlich mit den säuberlich gespitzten Bleistiften. In der mittleren der drei Schubladen des Louis XVI.-Schreibtischs atmete ich den feinen Geruch der kubanischen Zigarren des Colonels und den Veilchenduft der Briefe der Mademoiselle de Balladon. Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht, nachdem der Colonel mich erworben hatte. Ich half ihm bei den Verbesserungen seiner Skizzen zu Aufmarschplänen und  bei den Planungen militärischer Befestigungen, denn der Colonel glaubte,  er wäre ein Genie im Festungsbau und würde selbst Vauban übertreffen. Seit seiner Pensionierung hatte er nichts anderes mehr zu tun.

Ich war wichtig. Was hätte dieser hagere, französische Aristokrat ohne meine Hilfe fertiggebracht? Und bedenken Sie, welcher Radiergummi residiert schon in einem Schloss aus der Zeit Heinrich III.?

Manchmal bekam der Colonel Besuch und die Herren Militärs sahen sich die Skizzen an, an denen ich, wenn man es recht betrachtet, einen erheblichen Anteil hatte. Die Herren sparten nicht mit lobenden Kommentaren, denn mein Colonel wäre fast Kriegsminister geworden. Ich war kein gewöhnlicher Radiergummi. Ich war schon etwas Besonderes und das sah im Laufe der Jahre auch der goldene Füllfederhalter ein und respektierte mich. Glauben Sie mir, ihn nahm er viel seltener in die Hand, als mich. Der Colonel behandelte mich mit einer Behutsamkeit, die etwas Gemessenes hatte. Er reichte mich nie an seinen Kammerdiener weiter. Er räumte mich auch wieder selbst in die Schreibtisch-Schublade  ein, wo ich in einer Art Noveau Bronzeschale zu liegen kam. Wenige Zentimeter von mir entfernt träumten die Briefe der schönen Mademoiselle de Balladon vor sich hin. Leider habe ich die junge Dame nie kennengelernt. Sie war die Jugendliebe des Colonels. Das erkannte ich daran, wie er in seltenen Augenblicken die Briefe wie eine Kostbarkeit in die Hand nahm und das rote Band löste, das sie zusammenhielt und in einem davon las.

Ja, er war ein schöpferischer Mensch, mein Colonel, und ich kann mich rühmen, daran einen nicht geringen Anteil zu haben. Wie oft fiel ein suchender Blick aus seinen stahlgrauen Augen auf mich, wenn, wie häufig, etwas an seinen Aufmarschplänen zu verbessern war.

Irgendwann gewann ich den Eindruck, dass der Colonel in körperlicher Hinsicht eine schlechte Phase durchmachte. Er zeichnete nicht mehr. Ich glaube, man brauchte keine besonders feine Nase, um zu erkennen, dass es dem Colonel nicht mehr gut ging. Es war wirklich mein großes Pech, dass der Colonel eines Tages tot in seinem Armlehnstuhl saß. Sein Erbe war ein junger Neffe, ein ungehobelter Mensch. Er verbrannte die Skizzen meines Colonels im Kamin. Ebenso erging es den Briefen der Mademoiselle, nicht ohne, dass er vorher einen Blick in einen der Briefe geworfen hatte und dabei ein widerwärtiges Lachen ausstieß. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Alles veränderte sich in rasender Geschwindigkeit.

Der Tod des Colonels hat für mich alles zum Einstürzen gebracht. Ein neuer Zustand, der mich alles, was mein bisheriges Leben ausgemacht hat, verlieren ließ, etwas was ich mir niemals hätte vorstellen können.

Der Neffe wies den Kammerdiener an, mich neben vielen anderen Dingen zu entsorgen, ohne Rücksicht darauf, was ich alles geleistet hatte.

Dort im Abfall bin ich also gelandet, zwischen schmutzigen Taschentüchern, Bleistiftstummeln, Zeitungsausschnitten, Bartbinden und noch grässlicheren Dingen. Ich, der ich im Dienste meines Herrn hart geworden bin.

Ich frage mich, wohin sie mich bringen? Ich sehe ein Stückchen hellen Himmels über mir, während der Zinkeimer stark schaukelt. Wir haben also das Schloss verlassen. Ich erinnere mich, wenn auch nur dunkel, diese Umgebung schon einmal gesehen zu haben.

Rauch, Brandgeruch, rote Flammen. Ich lande im Feuer.

Bedeutet das mein Ende?

Gisela Naumann